Die nichtigen Wörter. Über einen immer neu erhobenen Ton der Verzweiflung an der Literatur
Intellektuelle Clowns verbringen stille Tage nicht in Clichy, sondern im Cafe Größenwahn, wo das Sinnige, das serviert wird, je deutlicher nach Müll schmeckt, desto länger man es auf der Zunge hat. Die Intellektuellen: die Schriftsteller. Da sie diesen ihren Titel jedoch heute den Talk-Show-Mastern und –Masterinnen verdanken, die ihnen gemeinsam mit anderen Medien-Agenten ihre Portion an öffentlich anerkannter Intellektualität zumessen, und sich solcher Maßgabe bereitwillig fügen, sind sie zu Clowns, zu ernsthaften Karikaturen ihrer selbst geworden, die bei Kaffee, Zigarette und Nachdenklichkeits-Vibrato den Wahn ihrer Größe pflegen. „Wir simulieren und meinen es zugleich bitter ernst“, sagt der Schriftsteller Richard Wagner über die Schriftsteller. Wer, so Wagner, heute noch Schreiben für eine hohe, seltene, einsame Kunst hält, nur von wenigen schwer und ohne besondere Begabung gar nicht zu erlernen, verfängt sich im „Mythos Schreiben“ . Wer schreibt heute nicht? Alle schreiben oder lassen schreiben, die Ex-Bundeskanzler und die Alt-Schauspieler, die CEOs und die Sozialhilfe-Empfänger, die Fußball- und die Guitarre-Spieler, die missbrauchten Töchter und die erfolgreichen Töchter, die SS-Enkel und die 68er-Söhne, die Ankläger und die Rechtfertiger, die Veränderer und die Bewahrer, die Gewinner und die Verlierer ... „Weiß der Schriftsteller tatsächlich mehr als alle anderen?“ Warum sollte gerade er mehr von dieser sich ständig neu übertreibenden und überschreibenden Welt wissen als alle übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Deutungs-Wettbewerb? Warum fragt man immer wieder ihn nach seiner Meinung über alles jedes, ihn, der nichts gelernt hat als eine veraltete, medial hoffnungslos rückständige Kunst? Ja, warum? Eine vernünftige Antwort gibt es nicht. Aber vielleicht eine literarische.
1987 ist Richard Wagner aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Als Aussiedler. Sein ersten beiden Gedichtbände „Schwarze Kreide“ (1991) und „Heiße Maroni“ (1993) siedeln dementsprechend aus dortigem Deutsch, dessen Semantik und Syntax sich verflüchtigen, in ein hiesiges um, dessen Wörter und Sätze aufgespürt, aufgefunden und zu einer deutungskräftigen Grammatik neu verdichtet werden müssen. „Ganz ruhig stellen sich die Wörter ein. / Und decken nichts auf. / Und decken nichts zu.“ Wort, ohne alle weitere Bestimmung und Beziehung. Ohne Dach, durchsichtig vom Boden bis zum Keller. Die Bedeutungen der Wörter sind in ihnen selbst eingestellt. Es gibt nichts zu entdecken. Doch: „Der vergebliche Rand steht / dir aus den Wörtern entgegen. / Es ist der vergebliche Rand / der Gefühle.“ Am Rand der eingestellten Bedeutungen regen sich die Gefühle. Mehrdeutig. Vergeblich für sich selbst, denn am Rand regloser Bedeutung sind sie unbedeutend. Vergeblich für die Bedeutungen, denn am Rand der Gefühle können sie sich nicht halten, so dass sie wegweisend ins Leere fallen. Und während Unbedeutendheit und Bedeutungslosigkeit einander vergeben, vergiften die Gefühle mit dieser Vergebung zugleich die Wörter, aus denen sie ent-stehen. Gefühle vermitteln. Unmittelbar. Sie werden Beziehung immer schon hergestellt haben, bevor die Sprache sie mit ihren Wörtern in einem syntaktischen Netz von Bezüglichkeiten nach- und zur semantischen Verfügung stellt. Vergiftete Wörter vermitteln nichts mehr. Sie überlassen die Gefühle ihrer Unmittelbarkeit bis zur Versachlichung: „Die Dinge sind einzeln. / Die Bedeutung steht neben dem Wort / und grinst.“
Nicht dass dem lyrischen Ich die Sprache im Mund zerfiele. Schon gar nicht wie modrige Pilze oder sonst irgendetwas aus dem Archiv der hergebrachten Vergleiche mit natürlichem Werden und Vergehen. Aber in seiner neuen Sprach-Heimat lösen sich ihm die bisher selbstverständlichen Momente des Sprechens von etwas – die Wörter, die Bedeutungen, die Gefühle – voneinander, negieren, differenzieren, detachieren sich, lähmend, vergiftend, verspottend, indem sie eine andere Sinnform von Gesellschaftlichkeit nicht nur vor-, sondern auch aufzeigen: „Die Wörter treiben / in der Luft, / haltlose Gegenstände. / Geschmeidig gleiten die / Menschen / unter ihnen weg.“ Die selbstverständliche Grammatik ist in der alten Heimat zurückgeblieben, die der neuen entzieht sich ihrer Selbstverständlichkeit: „Der Fluss ist auf der Flucht. / Die Eltern müssen bleiben.“ Die Dinge, die Wörter, die Bedeutungen ent-gehen dem lyrischen Ich, fließend, fliegend, fliehend, tanzen wie Luftballons und Seifenblasen um seine Deutungsversuche herum, umreißen einander aber in dieser Vereinzelung ebenso einsichtig wie eindrücklich – „die nichtigen Wörter, die jedes Mal leuchten.“
Was erwartet ein Bewohner des Elfenbeinturms, der das Getümmel einander zeichnender und überzeichnender Sinnbilder und Sinnbildungen vornehm und vorsichtig übergipfelt, von Literatur? „Etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewusste Möglichkeit der Wirklichkeit bewusst macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken.“ Das lyrische Ich in Richard Wagners Gedichten weiß nicht mehr als der Sprach- und Bedeutungsbetrieb, in dem es sich neuerdings bewegen soll. Es weiß weniger als „früher, als die / Dinge noch zugänglich waren / für das Auge, / für die Hand“, als die Gefühle den Bedeutungen noch den Weg bahnten, damit sie mit den Dingen gehen und sie zu einem sich mit sich selbst auseinandersetzenden Ganzen vereinbaren konnten, statt sie zu vereinzeln und grinsend neben ihnen zu stehen. Die alte sinngebende Sprache ist tot, die neue noch nicht erwachsen, noch unvermögend, ihre Glieder abschätzend zu recken und einvernehmlich zu gebrauchen. Aber dieser unfertige, noch anzuknüpfende Zusammenhang setzt neue, bisher nicht bewusste Möglichkeiten der Wirklichkeit frei, neue Zugänge „für das Auge / für die Hand“, zu sehen, zu denken, zu sprechen.
Sieben Jahre nach „Heiße Maroni“, in Richard Wagners nächstem und bisher letztem Gedichtband, ist das lyrische Ich „Mit Madonna in der Stadt“. Und was bringt ihm das ein? Dass es sich verdoppelt. Es sei September, erzählt es ihr und uns, „die großen Bedeutungen bleiben nicht aus [...] / und es riecht nach Laub, aber das sind bloß die Dichter, / die in den Vorzimmern liegen und schnarchen, damit man sie besser hört.“ Es wird Herbst, Erntezeit, Sterbezeit, in der die groß gewordenen Bedeutungen den Geschmack von welkendem Laub haben, während die Sprache ihren Dichtern im Schlaf einen Laut gibt, der das Bedeuten mit dem Welken verschmilzt, „damit man sie besser hört“ – die Dichter. Aber der Autor, der Stimm- und Stichwortgeber dieses lyrischen Ichs, ist doch wohl auch ein Dichter und schnarcht mit in den Vorzimmern, bewusst- und ahnungslos über die hier vor ihm liegenden neuen syntaktisch semantischen Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu sehen, zu denken, zu sprechen. Wahrscheinlich träumt er von sich und Madonna, der er im Traum von den Dichtern erzählt, die ... Brechen wir das Wann ab, tauchen wir unter der sich zuziehenden Endlosschleife weg und fragen wir demzufolge die Gedichte nach ihrem Wo, nach der Örtlichkeit der Stadt, durch die sie sich mit Madonna bewegen. „Niemand weiß, wo wir sind. / Das Dach ist kein Dach über dem Kopf. / Das Dach ist das Dach der Welt. / Darunter wäscht eine Hand die andere.“ Unsinn. Wir, Madonna und Ich, wissen es ganz genau: am Dach der Welt. Aber das ist kein Dach über dem Kopf, sondern der Himalaja, ein Dach höchstens über dem Kopf der Welt, falls sie einen hat, ein Dach jedenfalls, unter dem man nicht gehen und stehen kann, aber trotzdem wäscht dort eine Hand die andere. Das Dach ist kein Dach ist ein Dach. Unsinn? Oder vollkommene Zweideutigkeit, in der die Bedeutungen reinweg von Hand zu Hand gehen, immer entscheidend, aber nie entschieden? „Es sind Stimmen in deinem Ohr. Sie sind innen / und außen und sie sagen etwas. Und was sie / sagen, ist nicht der Rede wert, aber es leuchtet.“
Schon in Richard Wagners erstem Gedichtband „Schwarze Kreide“ leuchtet’s. Da sind es „die nichtigen Wörter, die jedesmal leuchten. / Die jedesmal leuchten.“ Nicht nur sie. Auch „das Geld leuchtet, wie nach dem Regen die Blätter der Bäume / leuchten.“ Die nichtigen Wörter, das Geld, die Blätter. Was leuchtet? Oder besser: Wo leuchtet’s? Nach dem Regen auf den Baumblättern. Also dort, wo die zurückkehrende Sonne den vergangenen Regen trifft, wo Feuer und Wasser, wo der reinste Gegensatz sich berührt, ohne in seiner Gegensätzlichkeit zu erlöschen. Im Gegenteil: Er leuchtet auf. Wenn, wie das Gedicht behauptet, dieses Leuchten dem des Geldes gleicht, dann muss es sich an einem Berührungspunkt entzünden, der die einzelne und sichtbare Vermittlung eines einfachen Gegensatzes auf die allgemeine und unsichtbare des reinen Äquivalents in allem gesellschaftlichen Tausch bezieht und in ihr aufgeht. In dieser Mitte, auf diesem zentralen Platz, den sinnstiftende Sprache während dauernder Selbst-Ermittlung rastlos überquert, werden die Wörter, in denen sie geht, nichtig, weil sie ihre Bedeutung an ihn verlieren müssen, um sie erst auf seinem Wegnetz wiederzufinden. Diese zwischen Wörtern, Sätzen und Texten immer und überall aufleuchtende Mitte bedingt die Bedeutungen, ohne sich in und von ihnen fassen zu lassen. Sie bleiben, sobald sie feststehen, an der Peripherie, in den einander bedürftigen Extremen, und das Grinsen vergeht ihnen, wenn die Wörter aufbrechen, um sich von ihnen zu verabschieden und die Möglichkeiten zu prüfen, die in der Macht dieses Abschieds liegen.
Das ebenso heimatlose wie heimatsüchtige Ich der ersten beiden Gedichtbände beobachtet solches Leuchten mal hier mal da, an den zufälligen Ecken und entlegenen Enden seiner neuen Sprach-Welt, über die es weniger weiß als ihre ständigen Bewohner, während es zugleich in diesem Weniger kraft notwendiger Aufmerksamkeit mehr wahrnimmt als sie. Sieben Jahre später scheint es, vielleicht dank des Tete-a-Tetes mit Madonna, das Prinzip, den Grund-Satz seines Mal-hier-mal-Da gefunden zu haben: „Es sind Stimmen in deinem Ohr. Sie sind innen / und außen und sie sagen etwas. Und was sie / sagen, ist nicht der Rede wert, aber es leuchtet.“ Wenn Wörter und Sätze sinnstiftende Vermittlungen eingehen, lassen sie ihre anfängliche Bedeutung hinter sich zurück, um sich in ihrer Vereinigung eine neu vereinbarte zu geben, die sich der anfänglichen wiederholend, aber nicht wieder hersagend, in aufleuchtendem Untergang erinnert. Wenn nun aber diese anfängliche Bedeutung in ihrer unvermittelten Gegen-Sätzlichkeit erhalten bleibt? Wenn es auf dem Markt für Sinngebungs-Ware keinem Angebot mehr gelingt, Konkurrenz-Produkte zu vertreiben oder auch nur zu verknappen, so dass, was es auch bietet, andere mitbieten, sich, unter- oder überbietend, an und mit ihm messen? Wenn der neuen Erhältlichkeit der New Economy die neue Disponierbarkeit eines New Discourse entspricht, in dem die aus der Erinnerung aufleuchtende Bedeutung den gesamten Handelsplatz Sinnvermittlung stroboskopisch illuminiert und es keine Stimme gibt, die nicht andere Stimmen auf den Plan riefe? Marktfahrer und Marktbesucher erfahren vor und in allem Handel doppeltes Gehör: eine Stimme innen, diejenige vollzogener, sinnerzeugender Vermittlung, und zugleich eine außen, diejenige darin ebenso untergegangener wie daraus wieder hergestellter anfänglicher Unmittelbarkeit, beide in einander herausforderndem Wettbewerb. Nicht als ob das, was beide Stimmen in ihrer vielfachen Verdoppelung sagen, der Rede wert wäre. Der Rede Wert, ursprünglich in der stummen Mitte aller Diskursivität gelegen, aus der er sich im System der Bedeutungen vollkommen, aber nie vollständig zur Sprache bringt, ist in unzählig einzelne Gelegenheiten aufgesplittert, die der Rede Wert nicht wert sind, aber von nichts anderem sprechen als von ihm. Deshalb leuchten sie – widerspielende Lichter jener schlicht einfachen Helligkeit, derer das lyrische Ich der ersten beiden Gedichtbände Richard Wagners zwischen Sonne und Regen auf dem Baumblatt gewahr wird.
Weiß der Schriftsteller, der sogar Madonna begreiflich machen will, dass immer zwei Stimmen in ihrem Ohr sind, mehr als alle anderen Anbieter auf dem Sinn-Markt? Falls ja: Was in welcher Weise? Die Literatur hat die Ahnung und die Antwort schon lange. Auch das Modell.
Im Oktober 1786 lässt sich ein Reisender in Selbst-Ermittlung auf Bedeutungsjagd – kein Bewohner des Elfenbeinturms – von zwei Gondolieri „den Tasso und Ariost“ im Wechselgesang vortragen. An der Giudecca steigen sie aus. „Sie teilten sich am Kanal hin, ich ging zwischen ihnen auf und ab, so dass ich immer den verließ, der zu singen anfangen sollte, und mich demjenigen wieder näherte, der aufgehört hatte. Da ward mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen.“ Madonna und ihr Publikum, ihre Bewunderer und ihre Verächter, die ein Idol oder die ein Geschäft aus ihr machen: Sie alle drängen in die Mitte zwischen den beiden Stimmen, an den Ort, von dem her sie sich möglicherweise ordnen, überwachen, beherrschen zur orchestrierenden Bereicherung der eigenen Stimme machen lassen. Das Gedränge ist groß. Der Lärm, in dem die sich bedrängenden Stimmführer einander zerreden, wird immer größer. Schriftsteller wenden sich von ihm ab und der Stimme zu, die eben verstummt, um die eben anhebende aus dem Abklang dieses Verstummens wahrzunehmen. Sie sind in der Vermittlung der Unmittelbarkeit, an der Unmittelbarkeit der Vermittlung gewärtig. So bleibt ihnen die Sinngebung vielstimmiger Diskursivität auch dort gegenwärtig, wo sie im medialen Lärm zu versagen und zu versiegen droht. Sie verfallen dem „Mythos Schreiben“ nicht. Sie verkörpern ihn, indem sie der Rede Wert überall wert halten. Wissen sie dadurch tatsächlich mehr als alle anderen im Konkurrenzkampf um Sinn-Markt-Macht? Nicht mehr als das Echo zwischen einem Kleinbuchstaben und einem Grossbuchstaben. Aber das leuchtet.
Basel, im Juni 2007
Zuerst erschienen in: "Weimarer Beiträge" 54 (2008), S. 293-297.