Methode

Odysseus ist nicht auf Irrfahrt gewesen. Er ist geradenwegs von Troja nach Ithaca gesegelt und hat sein Leben mit seinem Weib Penelope und seinem Sohn Telemachos dort fortgesetzt, wo er es für den Kampf um Troja aufgegeben hatte.

Zwanzig Jahre nach seiner Rückkehr ändert er zum ersten Mal seine Gewohnheiten. Er macht morgens vor Sonnenaufgang oder abends nach Sonnenuntergang einen Ausflug, oder richtiger: einen Ausgang, der immer etwa die gleiche Zeit dauert. Der Tag verläuft wie von je her üblich, nur gönnt sich Odysseus nach dem Mittagessen jetzt ein Schläfchen. Manchmal ein recht langes.

„Ihr werdet alt, Vater“, sagt Telemachos. „Ihr solltet euch zur Ruhe setzen.“

„Neben der ist kein Platz für mich.“

Odysseus spricht nicht über seine Ausgänge – sein tägliches Weggehen. Telemachos hat einmal versucht, ihm nachzuschleichen, aber der Alte hat ihn sofort bemerkt und ihn mit bösen Flüchen wütend weggejagt.

Eines Mittags wacht Odysseus von seinem Schläfchen nicht mehr auf. Und nun? denkt Telemachos. Eigentlich ist ja alles schon lange geregelt, eigentlich kann ich übergangslos in seine Fuß- Heute morgen war er doch weg, oder? Und er ist doch immer barfuss gegangen?

Telemachos findet die Spuren seines Vaters leicht. Kein Regen, kein Wind, kein Vorgänger. Hier und da stocken sie, bilden einen kleinen Trichter und schlagen zugleich überraschend weit aus, so als habe sich hier jemand auf der einen Ferse mehrmals gedreht, um von ihr mit dem anderen Fuß plötzlich nach jemand oder etwas zu springen. An einem halbwüchsigen Laubbaum sind die unteren Zweige zur Seite geschlagen, einige sogar abgebrochen, so dass der Stamm blank hervortritt, als hätte sich jemand an ihn lehnen oder etwas in ihn kerben wollen. Aber die Rinde ist unberührt, nicht einmal die kleinsten Moose und Flechten sind zerdrückt oder verletzt. Unter dem Reben im Weinberg hat anscheinend jemand jemandem ein Bett gemacht. Die Stöcke stehen wie ein wenig zur Seite geschoben, und die frischen Triebe sind sorgfältig und sorgsam zu einem Dach ineinander geflochten. Aber im Gras kann niemand gelegen haben; die Halme halten sich unangetastet grade, keiner scheint an- oder gar abgeknickt. Wer ist hier mit seinem Vater unterwegs gewesen? Nach wem hat er getreten, wen sich an den Baum lehnen lassen, um in ihn genau und in der Ruhe anzusehen? Für wen hat er das Bett unter den Reben gemacht? Für jemanden, dem er auf der Spur ist und der keine Spuren hinterlässt?

Hinter der nächsten Wegbiegung stößt Telemachos auf die Staubzeichnung.

Sie liegt in einer kleinen, beinahe quadratischen Mulde im Schatten eines großen, alten, weit ausladenden Olivenbaums.

Was ist das? Schrift? (Telemachos hat schon Schrift gesehen: Auf den Kupferbarren, die aus Kreta kommen, bei den Gold- und Elfenbein-Händlern aus dem Nildelta. Sie halte, behaupten die, Gesprochenes fest und gebe es, wann man wolle, später wieder zurück, auch wenn die, die damals gesprochen hätten, gar nicht da wären. Das klingt, findet Telemachos, nach Magie; vor allem klingt es nach etwas Überflüssigem. Wer in Ithaca braucht so etwas?) Aber das sind keine Schriftzeichen. Doch. Nein. Das – das sieht aus – wie – Wie? Telemachos schüttelt den Kopf. Wie hat er bis heute noch nie nötig gehabt. Das Meer ist das Meer, der Krieg ist der Krieg, das Brot ist das Brot. Was man darüber wissen muss, um es zu begreifen, lässt sich einfach sagen. Das hier nicht. Also wie?

Stell dir vor, die Sonne hinter dem Olivenbaum stände jetzt – später Nachmittag – plötzlich still. (Tut sie nicht, Unsinn, ja, sicher, aber nur mal angenommen) Der Schatten, den die Zweige und Blätter in den Staub werfen, ebenso. Dann kommt Wind von irgendwo her, ein leiser, leichter, vorsichtiger Wind, die Zweige und Blätter bewegen sich, ihr Schatten mit ihnen. Der erste Schatten verschwindet nun aber nicht, sondern bleibt liegen, und der zweite legt sich über ihn, so, dass sie nicht zu trennen sind, aber an ihren Unterschied erinnern. Wenn das nun den ganzen Tag so gegangen wäre, dann –

dann verstände man wenigstens, wie das hier entstanden ist. Telemachos nickt. Bloß wozu das gut sein soll, kann er sich immer noch nicht erklären. Der Alte muss verrückt geworden sein und seine Verrücktheit, schlau, wie Verrückte oft sind, in seinen Morgen- oder Abendspaziergängen verborgen haben. Telemachos will sich abwenden und nach Hause gehen; aber das Vorstellungs-Gespräch ist noch nicht zuende.

Stell dir weiter vor, das alles würde dauern. Vielleicht für so etwas wie Immer: Die Sonne, der Baum, der Wind, die Schatten über Schatten über Schatten ...

Telemachos wird plötzlich wütend. Sehr wütend. Er trampelt auf der Zeichnung herum, tritt den Staub in den Staub, wischt Zeichen um Zeichen weg und aus, bis jedes Anzeichen getilgt ist. Bevor er den Heimweg einschlägt, dreht er sich noch einmal um. Über der Mulde steht eine Staubsäule, Staubteilchen flirren und flittern golden in der untergehenden Sonne. Aber die Säule sinkt schon in sich zusammen, und ihr Gold verblasst.

„Hast du etwas herausbekommen?“ fragt Penelope abends ihren Sohn.

„Ja. Staubige Füße.“